Interview mit Benedikt Brecht
- Wilhelm Heim
- 15. Apr.
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 21. Mai
Straßenfotografie ist mehr als nur Authentizität
In diesem "Schreibgespräch" habe ich mich mit Benedikt Brecht ausgetauscht, der derzeit gerade Informatik studiert und leidenschaftlicher Fotograf und Produzent/Moderator des Podcasts "Momente Deiner Geschichte" ist. Ihr könnt ihn auch auf Instagram finden. Das Foto von Benedikt stammt von Jochen Koch.
Wilhelm: Lieber Ben, ich freue mich, dass du dich auf das Experiments eines "Schreibgesprächs" zu den Themen der Fotografie mit mir einlässt - und ich mit dir gewissermaßen das Startinterview für die Rubrik "Gespräche über Fotografie" bei Zinegraphie führen darf. Ich hoffe, wir kommen beide ein bisschen aus unserer Komfortzone heraus. Du hast in deinen Podcastfolgen sehr häufig Joel Meyerowitz als einen deiner Liebelingsfotografen erwähnt. Sehr bekannt ist ja seine Maxime zur Fotografie: "Lizenz zum Sehen". Warum fasziniert dich Meyerowitz und glaubst du, dass du als Fotograf bereits eine Lizenz zum Sehen hast?

Ben: Moin Wilhelm! Erst einmal möchte ich mich bei Dir für die Möglichkeit bedanken, direkt am Anfang an Deinem tollen neuen Projekt mitwirken zu dürfen. Das ist eine Ehre für mich ;-)
Nun zu Joel Meyerowitz. In der Tat ist er ein absolutes Idol für mich. Seine Straßenfotografie hat mich von Anfang an in den Bann gezogen. Und wenn man sich weiter mit ihm und seiner Fotografie beschäftigt, ist da noch viel mehr an Inspiration, die auf einen wartet.
Der Ausspruch "Lizenz zum Sehen" ist mir allerdings nur als deutscher Titel eines seiner Bücher bekannt, das auf Englisch den Titel "How I Make Photographs" trägt. Ich habe das Buch zwar nicht gelesen, allerdings habe ich mir vor Jahren seinen dazugehörigen On-Demand-Kurs bei "Masters Of Photography" gekauft (und durchgesuchtet!). Hauptsächlich geht es bei dem Buch/Kurs darum zu lernen, wie Meyerowitz beim Fotografieren vorgeht. Von daher finde ich den englischen Titel deutlich passender als die deutsche Übersetzung. "Lizenz zum Sehen" erinnert mich da doch eher an den Spruch von James Bond, und "abschießen" wollen wir ja eigentlich keinen, auch nicht mit der Kamera^^.
Ich gehe jetzt einfach mal davon aus, dass die "Lizenz zum Sehen" meint, dass man die Umwelt anders wahrnimmt als ein Nicht-Fotograf oder - zumindest - als man selbst vor der Zeit der eigenen Fotografie. Und für mich selbst kann ich das zu 100% bejahen. Sicherlich bin ich noch weit davon entfernt, alles vor meinen Augen zu "sehen" oder zu "erkennen", was ein Foto wert wäre. Aber eine Veränderung zu früher habe ich auf jeden Fall bemerkt.
Wilhelm: Nee, abschießen nicht - eher das Gegenteil: Einfangen? Gehen wir mal von dem Ideal weg, alles sehen zu können und zu wollen. Was würdest du denn noch sehen bzw. erkennen wollen?
Ben: Gute Frage! Das ist ja gerade das Spannende an der Straßenfotografie: Man schnappt seine Kamera und geht hinaus in die Welt. Und man hat absolut keine Ahnung, was passieren wird. Klar, in Teilen kann man auch die Straßenfotografie ein bisschen planen, sei es z.B. ein Foto mit einem bestimmten Sonnenstand (der ja vorher bereits prognostiziert werden kann) und den daraus resuliterenden Licht-/Schattenverläufen. Oder dem Besuch von Veranstaltungen wie Faschingsumzügen. Aber letzendlich ist nicht wirklich klar, was man am Ende sehen und folglich auch fotografieren kann.
Ich glaube, es gibt überall da draußen potentielle Motive/Momente, die ein Foto wert sind. Man muss sie nur finden.
Wenn ich mir wünschen könnte, was ich gerne (mehr) sehen und damit auch fotografieren können würde, so wären es sicherlich solche Momente wie das Bild von Meyerowitz, bei dem ein Mann auf dem Boden liegt und ein anderer mit einem Hammer über ihn steigt. Oder so eines wie das von Elliott Erwitt, um einen weiteren Namen zu nennen, bei dem ein Mensch einen Hund auf dem Schoß hat und es so aussieht, als ob Hund und Mensch verschmolzen sind; Oberkörper Hund, Unterkörper Mensch.
Diese Bilder zu kategorisieren fällt mir unfassbar schwer. Teilweise wird bewusst mit der Eigenschaft des 2-d-Mediums Fotografie gespielt. Aber zusammenfassend sind es wohl einfach Situationen und Momente, die eine Geschichte erzählen. Manchmal gepaart mit Humor, manchmal bitter ernst. Und vor allem, das ist wirklich ein wichtiger Punkt, müssen die Geschichten, die der spätere Bildbetrachter in seinem Kopf konstruiert, ja gar nicht der Wahrheit entsprechen. Das ist ja das tolle an der Straßenfotografie: Sie hat doch eigentlich gar keinen Anspruch auf Wahrheit, wie das im Gegensatz dazu bei der Reportage ist. Damit meine ich nicht, dass Bilder gestellt sein können, sondern, dass Bilder absichtlich aus dem Zusammenhang gerissen werden dürfen.
Aber natürlich freue ich mich auch über jedes grafisch ansehnliche Bild, das mir gelingt und würde mir wünschen, ebenfalls in dieser Kategorie weiter dazuzulernen. Manchmal sieht eine Szene auch einfach nur toll aus, völlig ohne Geschichte, Witz oder moralischer Botschaft.
Wilhelm: Aber wenn Fotografien aus dem Zusammenhang gerissen werden, verfälschst du dann nicht die Realität?
Ben: Ja natürlich! Aber verfälscht man die Realität nicht so oder so, wenn man eine 3-dimensionale Welt auf ein 2-dimensionales Medium abbildet? Und dabei natürlich dem Bildbetrachter auch nur manche Bilder zeigt, die Situation also sowieso nicht in ihrer Gesamtheit zugänglich macht?
Ich meine, es kommt natürlich darauf an, was die Absicht mit der Fotografie ist. Wenn es um Reportage geht, soll der Bildbetrachter einen möglichst authentischen Eindruck von z.B. einer gewissen Situation, eines Ortes oder eines Menschen bekommen. Nachrichtenbilder z.B. DÜRFEN auf gar KEINEN Fall aus dem Zusammenhang gerissen werden! Sprechen wir aber z.B. von der Streetphotography, so ist dies meiner Meinung nach nicht zwingend so. Oder vielleicht GERADE nicht so.
Ich möchte hier noch einmal auf das oben beschriebene Bild von Meyerowitz, bei dem ein Mann auf dem Boden liegt und ein anderer mit einem Hammer über ihn steigt, zurückkommen. Es sieht auf dem Bild tatsächlich so aus, als ob der Mann mit dem Hammer den am Boden liegenden Mann kurz vor dem Zeitpunkt des Fotos niedergeschlagen hätte. Beim Bildbetrachter entsteht eine Geschichte im Kopf. In irgendeinem Interview hat Joel dann mal erzählt, dass es absolut gar nicht so war - der Mann war von alleine ausgerutscht und hingefallen und der mit dem Hammer musste über ihn drüber steigen, da er ihm einfach im Weg war. Die authentischere Version wäre natürlich gewesen, das Bild ein bisschen früher oder später zu machen. Nämlich dann, wenn der andere Mann, der ja an sich eigentlich gar nicht wirklich etwas mit der Situation des am Boden liegenden zu tun hatte, nicht da gewesen wäre. Aber wäre es ein genau so spannendes Bild geworden? Wohl eher nicht.
Gerade bei einem Bild im Rahmen der Kunst - nicht(!) Dokumentation - ist es also doch toll, dass die Geschichte im Kopf eine andere sein kann als die Situation in Echt tatsächlich hergegeben hätte. Noch ein anderes konstruiertes Beispiel (wobei, ich habe solche Bilder schon öfter gesehen, also doch gar nicht so konstruiert): Man stelle sich einmal vor, auf einem Bild sei eine Nonne abgebildet, die gerade eine Zigarette raucht und sich einen Kurzen in die Kehle schüttet. Klar könnte man dazuschreiben, dass das Bild auf einem Faschingsumzug entstanden ist. Bei einem Zeitungsartikel müsste man das wohl auch tun, dieser soll ja vermutlich über den Faschingsumzug berichten und kein kritisches Kommentar über das Verhalten mancher Kirchenangehöriger darstellen. Aber bei der Kunstform der Straßenfotografie....? Nimmt das nicht irgendwie mindestens 50% der Magie weg?
Und noch darüber hinaus - bei manchen Bildern ist es ja sogar so, dass unterschiedliche Menschen die Bilder unterschiedlich interpretieren. Bei einem Nachrichtenbild gar nicht gut, bei Kunst eigentlich doch super, oder?
Ich selbst hatte auch bei meinen eigenen Straßenbildern lange den Anspruch, dokumentarisch zu arbeiten, sprich, eine gewisse Art von Authentizität als Grundlage herzunehmen. Mittlerweile sehe ich das anders und gebe mir sogar besonders Mühe, das auch (mal) anders zu machen.
Wilhelm: Ich bin da ganz bei dir, ich denke sogar, dass dieser Anspruch genau den Raum ausfüllt, der zwischen dem Foto als Abbildung von Realität und dem Foto als eigene Realität entsteht. Diesen Übergang finde ich nämlich sehr spannend. Aber noch einmal ein anderes Thema: Die Fotoflaute. Was macht für dich (d)eine Fotoflaute aus. Kurze Antwort mit fünf Begriffen?
Ben:
Keine Lust auf
Kamera in die Hand nehmen
Bilder bearbeiten
Eigenen Podcast aufnehmen
Gespräche über Fotografie
Konsum von Foto-Inhalten wie YouTube/Instagram/Podcasts/Bildbände
Wilhelm: Hört sich nach einem unbefriedigendem Zustand an? Mich interessiert der psychische Aspekt: Kann es sein, dass du als Fotograf in einer solch flauen Zeit keine emotionale Verbindung zwischen dir und der wahrgenommen Welt aufbauen kannst, weil du als Fotograf nichts von dir als Mensch preisgeben willst? Bzw. welche Rolle spielt dein persönlicher Hintergrund (deine Werte, deine Herkunft, deine Kultur, deine MomenteDeinerGeschichte) in deiner Fotografie? Brauchst also die Ästhetik als Erscheinungsform eines Fotos die Resonanz deiner Person bzw. deines Menschseins, um authentisch zu sein?
Ben: Die erste ist eine sehr spannende Frage, aber mit meiner Antwort muss ich - glaube ich - etwas enttäuschen. In meiner Freizeit beschäftige ich mich unfassbar viel mit der Fotografie (siehe vorherige Antwort). Da ist es manchmal dann einfach zu lange zu viel und ich bin sozusagen übersättigt. Ich bin generell bei vielen Sachen eine Art Ganz-Oder-Gar-Nicht-Mensch. Dann muss ich eine Zeit lang mal komplett weg davon. Meist reicht das dann zum Glück aber, um zu der jeweiligen Leidenschaft wieder zurück zu finden.
Welche Rolle mein persönlicher Hintergrund in der Fotografie spielt...hm...ich denke das spielt natürlich eine riesige Rolle. Wie man selbst ist und welche Werte man hat, das wird maßgeblich von den Genen, der Erziehung, dem sozialen und kulturellen Umfeld etc. geprägt. Und das alles prägt ja auch, wie man die Welt wahrnimmt und bewertet. Und das wiederum bestimmt, was man wie fotografiert.

Wilhelm: An der Stelle, wo du ein Foto veröffentlichst, hört ja deine eigene Deutungshoheit auf und der Betrachter kommt ins Spiel. Aber ich möchte vorher noch einmal einen Schritt zurückgehen: Was von dir selbst ist in diesem Foto von einer Dose enthalten?
Ben: Auf jeden Fall mehrere Aspekte die mich selbst, aber auch mein Umfeld und meine Fotografie, prägen.
Und nein, es betrifft nicht die Bierdose als Symbol für Alkohol. Ehrlich gesagt trinke ich kaum mehr davon, was ggf. eine Folge meiner wilden Jugend sein könnte ;-)
Aber Spaß beiseite; zum einen hasse ich Umweltverschmutzung abgrundtief! Es ist mir ein absolutes Rätsel, wie man sich selbst abends im Spiegel noch in die Augen schauen kann, wenn man Dinge absichtlich dorthin wirft, wo sie nun wirklich nicht hingehören. Natürlich könnte ich zurückgelassene Dinge nicht fotografieren, wenn sie keiner (absichtlich) vergessen oder wegwerfen würde. Aber im Tausch für eine sauberere Umwelt wäre es mir das wert!
Zum anderen ist es v.a. in meiner ländlichen Umgebung schwierig, Fotos auf der Straße zu machen, die auf welche Art auch immer Menschen mit einschließen. Wenn man in der Stadt schon manchmal viele Minuten vergebens auf einen zur Bildidee passenden Menschen an der richtigen Stelle wartet, könnte das auf dem Dorf sicher Stunden oder sogar Tage dauern. Ich bin öfter - manchmal sogar extra nur zum Fotografieren - in kleineren oder größeren Städten unterwegs. Allerdings verbringt man natürlich viel Zeit um das zu Hause herum. Daher habe ich für mich herausgefunden, dass ich meine Aufmerksamkeit auch auf Dinge lenken muss, die zwar irgendwie auf Menschen zurückzuführen sind, den jeweiligen Menschen an sich aber nicht beinhalten.
Abschließend lässt sich vielleicht auch noch der Aspekt des monochromen Bildstils anführen. Ich glaube man liebt ihn oder man mag das eher nicht so sehr. Ich liebe einfach Schwarz-Weiß...
Wilhelm: Die Dose hat mir gerade zwei kleine Geschichten über dich erzählt, die zunächst gar nichts mit Fotografie zu tun haben. Ist das nicht großartig! Ich würde diese beiden Geschichten gerne so stehen lassen. Dieses Schreibgespräch war mir wirklich eine große Freude! Hast du noch einen Gedanken für mich?
Ben: Auch mir hat es sehr viel Spaß gemacht, danke dafür! Ich hätte noch einen kleinen Aufruf an Dich, aber auch alle, die das hier lesen. Bleibt Euch in der Fotografie, aber auch sonst überall, selbst treu. Es ist, denke ich, gerade in der heutigen Zeit so, dass viele Menschen wenigen hinterherlaufen und dabei vergessen herauszufinden, was eigentlich in ihnen selbst steckt! Also, holt Euch natürlich Inspiration, Denkanstöße etc. überall da wo es geht, aber hört am Ende einfach mal in Euch selbst hinein =)



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