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Interview mit Martin Lüpkes

  • Autorenbild: Wilhelm Heim
    Wilhelm Heim
  • 24. März
  • 7 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 2. Apr.

Zurzeit fotografiere ich für ein Soloprojekt zum Thema "Unruhe"


Martin Lüpkes hat Politikwissenschaft und Germanistik (1. und 2. Staatsexamen Lehramt an Gymnasien und M.A.) studiert und ist seit dieser Zeit in den 70-er Jahren mit der Kamera unterwegs. Seit 2007 zahlreiche Ausstellungen in Hessen und NRW u. a. zusammen mit Volker Jansen und Alfred Junker im Trio gleis3eck. Sein „Sehen“ wurde geprägt durch die Wetzlarer Maler und Grafiker Paul Klose und Dieter Mulch. Die Fotografie ist bei Martin Lüpkes spürbar durch die Studienfächer und die Vorliebe für moderne Malerei beeinflusst. Fotografische Schwerpunkte sind Details und Strukturen, seit einigen Jahren jedoch verstärkt Urbanität mit dem Fokus auf der Unwirtlichkeit der Städte und der Annäherung an die klassische Streetfotografie. Zu finden ist Martin auch bei Instagram und in der Fotocommunity. Mitgliedschaften im wetzlarer-kunstverein.de und KulturNetzwerkFotografieMarburg e.V. 


Wilhelm: Lieber Martin, du bist nun der zweite Gesprächspartner bei meinen Schreibgesprächen. Ich danke dir, dass du dabei bist und ich möchte auch gleich thematisch vertiefen. Wir kennen uns zwar seit vielen Jahren (noch aus der Fotocommunity) und du bist der erste Fotograf, der mich - sicherlich unwissentlich - darauf aufmerksam gemacht (durch 50.faces) hat, dass man projektbezogen, thematisch und serienhaft die Realität sammeln und fotografieren kann. Hast du schon immer in diesen fotografischen Ebenen gedacht? Bzw. gab es einen Wandel vom Einzelbild zur Serie?


Martin: Lieber Wilhelm, ich danke Dir für die Einladung und freue mich sehr auf dieses Interview. Eine spannende Frage gleich zum Beginn. Ja, es gab diesen Wandel. Zum ersten Mal zeigte ich meine Fotografien vor 20 Jahren öffentlich in der Fotocommunity. Von Beginn an störte mich, dass dort allzu oft eine große Beliebigkeit herrschte. Wie viele andere zeigte ich zunächst Einzelfotos, war damit aber schnell nicht mehr zufrieden. Gleichzeitig fiel mir irgendwann auf, dass ich begann systematischer zu fotografieren und sich auf einmal wie von selbst Serien ergaben. Damit wurden meine Fotografien lebendiger und aussagekräftiger. Im besten Fall erzählten die Serien Geschichten, und das fasziniert mich bis heute. Längst denke und fühle ich in Dauerserien, etwa "Stadtgesichter" (50.faces in der fc), "Botschaften" (50.messages in der fc, zusammen mit gleis3eck "Neue Erzählungen" - aktuelle Ausstellung in Marburg), "Melancholie" und anderes. Zurzeit fotografiere ich für ein Soloprojekt zum Thema "Unruhe".


Wilhelm: Unruhe ist ja ein unbequemes Gefühl. Du schreibst auf deiner Homepage, dass dich die Unwirtlichkeit von Städten, das Widersprüchliche, das Raue, Subkulturelle und das scheinbar Nebensächliche fasziniert. Was von dir selbst als Mensch legst du in diese Themen?


Martin: Das ist eine Frage, die ich mir in letzter Zeit öfter selbst gestellt habe. Was eigentlich spiegelt meine Fotografie von mir selbst? Spiegelt sie mehr als ein Interesse an einem möglichst gelungenen Mix aus Szenerie und Komposition von Farben und Formen? Ich meine: Ja. Zumindest bin ich auf der Spur, genau das herauszufinden, was ich jenseits der gestalterischen Vorgaben für gelungenes, also erzählendes, Fotografieren in meine Themen lege. Mich prägen Politik und Pädagogik. Damit stehen für mein komplettes Denken, Fühlen und Handeln gesellschaftliche Verhältnisse und Menschen im Mittelpunkt. Auf meine Serien zur Urbanität bezogen, bedeutet das, dass ich nicht unbedarft durch die Städte flaniere, sondern wahrnehme, was sich wie verändert hat. Mein kritischer Gestus, der mich prägt, spiegelt sich so in meiner oft "dreckig" wirkenden Fotografie. Die Summe fotografierter Kleinigkeiten ergibt damit in einer Fotoserie ein subjektiv geprägtes Gesamtbild. Dabei suche ich die Unruhe nicht, ich finde sie einfach, und deshalb wird sie zum titelgebenden Leitmotiv eines avisierten Projektes.

Wie sehr im Übrigen meine Psyche eine Rolle spielt, ist mir vor drei Jahren in der (nicht-urbanen) Serie "Melancholie" bewusst geworden, die einen sehr persönlichen Bezug hat. Mir ist erst nach Sichtung von Hunderten Fotos, die innerhalb von drei Urlaubswochen entstanden sind, klar geworden, dass ich meine damals aktuelle Melancholie visualisiert hatte.


Wilhelm: Du hast eben angeführt, dass dich Pädagogik und Politik prägen - du hast auch Politikwissenschaft studiert. Gibt es ein Foto der Zeitgeschichte, das du selbst für eminent wichtig hälst? Was findet sich darin über dich wieder?


Martin: Ich erinnere mich spontan an eine berühmt gewordene Aufnahme von Hanns Hubmann von 1970, die den Kniefall von Willy Brandt vor dem Ehrenmal für die Helden des Warschauer Ghettos zeigt. Der Kniefall wurde zum Symbol der Auseinandersetzung mit den Verbrechen der NS-Vergangenheit und Dokument der Ostpolitik, die auf die West-Ost-Entspannung setzte. Ein Jahr vorher formulierte Brandt in seiner Regierungserklärung das Diktum "Wir wollen mehr Demokratie wagen." Beides, die Regierungserklärung und der Kniefall, haben meine politische Sozialisation deutlich geprägt und mich - als 15/16-Jährigen - politisiert. Mir wurde das erst vor kurzer Zeit wieder bewusst. Der Wetzlarer Kunstverein zeigte bis vor ein paar Tagen eine Ausstellung mit "Meisterwerken berühmter Leica-Fotografen". Dort war Hubmanns Foto zu sehen, und da ich häufig Aufsicht in der Galerie führte, hat mich seine Aufnahme neben anderen bekannten politischen Fotografien etwa von Barbara Klemm, Ulrich Mack und anderen vier Wochen lang immer wieder fasziniert. Mir wurde einmal mehr bewusst, wie sehr mich die Zeit Ende der 60-er und Anfang der 70-er bis heute geprägt hat.


Wilhelm: Für mich war es eine Schwarzweiß-Fotografie von 1982, als Schmidt durch das konstruktuive Misstrauensvotum abgewählt wurde und er und Kohl sich die Hände schüttelten. Das verursacht heute noch eine klebrige Gänsehaut. Das war zugleich mein erstes politisches Ereignis, an das ich mich erinnern kann. Gedrückte Stimmung kam zu Hause auf. Würdest du sagen, dass deine Art zu fotografieren auch politisch ist?


Martin: Deine Eindrücke zum Ende der sozialliberalen Koalition kann ich gut nachvollziehen. An ein Foto dazu kann ich mich seltsamer Weise nicht erinnern, allerdings an die heftige Debatte im Bundestag. Zu Deiner Frage: Man machte es sich zu einfach, behauptete man, alles sei irgendwie politisch - die steile These taucht ja immer wieder auf. In dem Moment aber, in dem ich meine Fotos beispielsweise zur Urbanität veröffentliche und sie etwa in Ausstellungen zu sehen sind, implizieren sie zunächst die Auseinandersetzung mit sozialer Realität, und deshalb haben sie politische Implikationen. Ich meide aber jeden pädagogischen und agitatorischen Gestus dabei, selbst dann, wenn ich Demonstrationen für Demokratie fotografiere, an denen ich selbst teilnehme. Wer die Fotos betrachtet, mag seine eigenen Schlüsse aus der fotografierten Unruhe ziehen. Ganz sicher ist meine Fotografie mit dem deutlichen Fokus auf der Urbanität über die Jahre politischer geworden. Deine Frage wird insofern auch zukünftig an Bedeutung gewinnen, denn ich bleibe bei diesem thematischen Schwerpunkt.


Wilhelm: Ich finde deinen Gedanken ganz spannend. Fotografen wollen ja gewissermaßen aus der Distanz etwas wahrnehmen und sind aber auch Teil des Geschehens. Allein schon dieser Umstand löst bei mir manchmal schon eine Art Unruhe aus. Je nach Situation sehr unbequem. Ich stelle ungern technische Fragen, aber was hat deiner Meinung nach die Wahl der Brennweite für einen Einfluss auf das Verhältnis zwischen Fotograf und fotografierter Realität?


Martin: Eine Frage mit vielen Facetten, die nicht nur fototechnisch von Bedeutung ist. Ich bleibe mal bei der urbanen Fotografie. Natürlich gilt, dass man mit einer Tele-Brennweite aus der Distanz heraus eine ästhetisch dominierte Nähe herstellt und sich damit als Teil einer Straßenszene etwas zurücknimmt. Umgekehrt gilt danach: Je weitwinkliger ich fotografiere, desto eher bin ich mitten im Geschehen, sozial distanzloser also wenn ich Menschen auf die Pelle rücke. Urbane Fotografie umfasst allerdings mehr als die klassische Streetfotografie mit Menschen. Wenn mir ein Graffito, ein Schild, Müll, eine grafisch interessante Beschädigung oder sonst irgend etwas auffallen, sind soziale Nähe und Distanz von geringerer Bedeutung, ist also die Wahl der Brennweite weniger wichtig.

Damit kommt noch etwas anderes ins Spiel: Das Verhältnis des Fotografen zur fotografierten Realität wird nicht nur von der Brennweite bestimmt. Mit der Wahl der Blende haben wir doch eine folgenreiche technische Möglichkeit, die Bildaussage auch im Hinblick auf Nähe und Distanz deutlich zu beeinflussen. Offene Blenden etwa, gezielt eingesetzt, spielen mit dem, was man von der Kamera abbilden lässt, in großem Ausmaß.

Eine Wendung, um meine Antwort auf die Frage zum Verhältnis Fotograf - fotografierter Realität abzuschließen: Ich erinnere mich angesichts Deiner Frage an einen fc-Fotografen, der seinen sehr guten Streetfotos Texte beigegeben hat, die ich als ausgesprochen distanzlos empfand. Er unterstellte den Menschen, die er fotografierte, typische Biographien inkl. Krankheiten und anderen phänotypischen Eigenschaften. Ich hatte mir seinerzeit vorgestellt, er hätte zufällig mich so fotografiert und öffentlich typisiert. Ich wäre stinksauer gewesen …


Wilhelm: Diese Distanzlosigkeit, die du beschreibst, verringert noch etwas anderes: Der Fotograf macht damit den Möglichkeitsraum zwischen Foto und Betrachter zu. Neben der Tatsache, dass ich als Betrachter keine Möglichkeit habe, dies zu verifizieren, wird mir dadurch der freie Zutritt in die fotografierte Szene ziemlich verwehrt. Auch das empfinde ich schon als unethisch. Ich würde gerne abschließend (oder endlich) zu "gleis3eck" kommen. Leider habe ich bislang nicht geschafft, eine eurer Ausstellungen zu besuchen. Wenn du dein Sein in gleis3eck mit einem Wort (Gefühl) beschreiben müsstest, was wäre das?

Martin: Glück.


Wilhelm: Die Antwort haut mich aber jetzt wirklich um! Chapeau! Ehrlich gesagt, berührt sie mich sehr - ich fühle mich von Menschen sehr häufig schnell bedrängt. Was genau erzeugt aus eurem fotografischen Zusammensein heraus dieses Glücksgefühl?


Martin: Glück fällt bekanntlich nicht vom Himmel. Man muss dafür empfänglich sein und Gelegenheiten zulassen, die Glück ermöglichen. Ganz profan: Ich bin kein enthusiastischer Kneipengänger, aber wir haben uns 2006 bei einem fc-Stammtisch kennen gelernt, obwohl wir weit auseinander wohnen. Trotzdem hatten wir uns ziemlich schnell entschieden, eine gemeinsame Ausstellung zu planen. Das war der Startschuss, und so arbeiten wir seit 2007 zusammen - zunächst in einem Quintett (pixelprojekt5), ab 2014 als Trio. Seit 2015 gab es 11 Ausstellungsprojekte, davon teilweise mit mehreren Stationen. Wir verstehen uns blind. Anspruchsvolle Themenfindung, aufwändige Organisation, ab und zu gemeinsame Fototouren - alles könnte nicht besser funktionieren.

Wir haben uns dabei alle entwickelt und pflegen neben all dem, was uns eint, unsere eigenen Vorlieben und Handschriften. Das ist für mich das Beglückende: Wir drei - Volker Jansen, Alfred Junker und ich - haben individuelle Talente, sind unterschiedliche Charaktere und fotografieren, was und wie wir wollen, aber wir realisieren auf dieser Basis gemeinsame Projekte. Die freundschaftliche, vertrauensvolle und von gegenseitigem Respekt geprägte Zusammenarbeit lebt insofern von Vielfalt und Einheit gleichermaßen. Die Vielfalt bedeutet produktiven Reiz und konstruktive Spannung, die Einheit spornt uns an, eine künstlerische Qualität zu erreichen, mit der wir als Trio in der Masse der Fotografinnen und Fotografinnen bestehen können. Die Beständigkeit und der Erfolg geben uns recht.


Wilhelm: Würdest du vor diesem Hintergrund sagen, dass Fotografie mehr als nur ein Hobby (ich finde den Begriff selbst sehr schauerlich) ist - vielleicht gar eine Lebenshaltung?


Martin: Wir sind uns einig. Hobby ist ein schauerlicher Begriff, und ich benutze ihn nicht. Ich bin Autodidakt, aber über den Hobby-Status längst hinaus. Zu sehr prägt die Fotografie seit Jahren meinen Alltag. Das hat etwas mit meiner "Lebenshaltung" zu tun, na klar. Zu meiner Biographie gehört untrennbar die Auseinandersetzung mit bildender Kunst und mit Fotografie. Das aktive Tun (alleine und im Trio) bedeutet dann letztlich ein Zu-mir-selbst-Kommen via Beobachtung der Welt. Die Fotografie verschafft mir bei allen Aufgeregtheiten, die ich sehe und fotografiere, über diese Art der Erkenntnis innere Ruhe und Gelassenheit. Sie ankert mich.


Wilhelm: Du sprichst mir aus dem Herzen! Und ich danke dir von Herzen!



 
 
 

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